Ein kleiner Schnitt

Ich wusste, irgendetwas stimmt mit mir nicht, als ich mich zum ersten mal verletzte.
Eigentlich habe ich mich schon immer selbst verletzt. Zuerst habe ich Wunden aufgekratzt, um die Narbenbildung zu fördern, bis es wieder geblutet hat. Dann habe ich mich gekratzt. Oder Fingernägel gekaut. Mich geschlagen. Keine Ahnung, warum ich das getan habe. Vielleicht weil ich schon immer sensibel und feinfühlig war und irgendwie mit der Masse an Gefühlen und Eindrücken zurecht zu kommen.
Aber das Schneiden begann 2009. Mit dem Mobbing.
Ich hatte eine alte, spitze Nagelschere von meiner verstorbenen Oma gehabt. Damit kratzte ich mir recht lange, rote Striemen auf die Arme. Ich steigerte die Intensität, bis kleine rote Tropfen aus den roten Linien krochen. Das machte ich einige Zeit so. Ich versuchte auch andere Utensilien – Messer, spitze Pinzetten, Feilen. Alles, was irgendwie spitz oder scharf war. Aber die Wunden waren sehr oberflächlich. Es blieben keine Narben.
2010 fand ich dann das Mittel zur Wahl, vor allem „inspiriert“ von einer Mitpatientin in der Klinik. Die Rasierklinge. Sie hat mich nie im Stich gelassen.
Meine ersten Schnitte mit der Rasierklinge waren auch noch oberflächlich, so wie man sich beim kochen schneidet. Irgendwann wollte ich tiefer schneiden. Ich durchschnitt die Oberhaut und schnitt bis auf die Lederhaut. Die Wunden wurden größer und tiefer, die Narben dick, rot und wulstig.
Es gab Zeiten, da schnitt ich jeden Tag. Allerdings auch Phasen, in denen ich Wochen nicht ritzte.
Oft verlor ich die Kontrolle. Ich dachte: „Ein kleiner Schnitt… Das wird niemand merken!“ Sobald ich aber die Klinge angesetzt hatte, wurden es mehr und mehr.
Ich wollte nicht, das ich mehr Narben auf den Armen hatte. Ich testete verschiedene Bereiche meines Körpers. Die Oberschenkel. Der Knöchel. Der Bauch.
Aber ich mochte es am meisten, die Arme zu schneiden. Bald wurde auch der rechte Arm verletzt. Im Sportunterricht wickelte ich mir jedesmal die Unterarme ab mit Kompressionsbinden. Lieber Binden über die ganzen Arme, als die Narben zeigen.
So konnte ich neue Wunden auch immer verstecken.
Das erste mal, als ich bis auf die Unterhaut schnitt, war April 2012. Warum ich mich an dem Tag so tief schnitt, weiß ich nicht. Ich sah zum ersten mal das gelb-körnige Fettgewebe. Ich fuhr zum nähen in die Notaufnahme.
Lange verletzte ich mich nicht mehr, bis 2014. Da häuften sich wieder die Selbstverletzungen. 2015 wurde ich mehrmals genäht, geklammert und gestript. Nach einiger Zeit bekam ich das wieder unter Kontrolle.
Svv ist ein zwanghaftes, aber auch suchtartiges Verhalten. Einfaches aufhören ist oft nicht möglich.
Ich wünschte, niemals damit angefangen zu haben. Und kann nur jedem, der daran denkt sich zu verletzen raten, andere Wege zu finden, um zurecht zu kommen.

Ich lass los

Ich sitze bei Locke. Diary Cards sind kein Thema mehr, das Thema BPS längst vom Tisch.
Ende letzten Jahres war ich zeitweise sehr enttäuscht von ihr. Ich hatte das Gefühl das die Themen ausgehen, wollte ihrerseits Nachfragen. Weil ich mich nicht getraut habe über vieles zu reden. Ich dachte sie ist Schuld daran, ich eine schlechte Patientin.
Dann habe ich mit einer Bekannten geredet und sie gab mir einen Denkanstoß. Ich sollte die Themen finden und frei erzählen. Von meinen Kinder/Jugendpsychotherapeuten war ich es gewohnt das der Großteil gefragt wurde. Ich habe das für selbstverständlich genommen. Ich dachte, so läuft das nun mal. Hatte ich jedoch ein eigenes wichtiges Thema, ging das aber auf jeden Fall vor. Bei den Erwachsenen sollte man jedoch am besten jedes mal selbst wissen, was man bereden möchte. Einfach um auch zu lernen zu reflektieren. Die eigenen Themen zu erörtern.
Mir fiel es dann schwer, das auch in der Klinik und in der Pia einzusetzen.
So dachte ich also, ich komme mit Locke nicht weiter.
Heute jedoch lief es richtig gut. Ich bin knapp ein Jahr bei ihr und ich kann ihr endlich vertrauen und frei reden. Deswegen habe ich heute ein Thema angeschnitten, über das ich bisher kaum frei geredet habe. Weder bei der Traumathera und in der Klinik. Ich konnte mich öffnen. Und es war befreiend.
Es war wie im Regen stehen nach langer Dürre.
Ich habe geweint und geweint und geweint. Ich hatte starke Schmerzen, weil ich mich so verkrampft hatte. Ich konnte nicht atmen und keuchte. Ich grub meine Fingernägel in meine überkreuzten Arme.
Das wird die nächsten Wochen so weiter gehen weil es noch längst nicht gut ist. Es ist zu stark, das Gefühl. Es ist noch nicht auszuhalten. Das muss ich erst lernen.
Locke war ziemlich mitgenommen und sie sagte: „Frau Kunze, jetzt erst kann ich Ihr Verhalten verstehen. Jetzt erst weiß ich, was sie da tun und warum sie das tun.“
Damit meinte sie meine berüchtigte Thera-Haltung. Kein Blickkontakt, Arme verschränkt und nach vorn geneigter Oberkörper. Leise Stimme. Und am wichtigsten: Du darfst nicht fühlen. Du darfst es nicht zeigen. Du musst es verdrängen.
Jetzt, da es raus ist, kann ich ohne Angst darüber nach denken.
Locke sagte: es ist nicht meine Schuld. Ich kann nichts dafür. Jeder hätte so gehandelt.
Was mir zu denken macht…Und ich weiß nicht, was ich machen soll um dad negative Gefühl zu beschwichtigen…Ich glaube, Locke ist schwanger. Und das hieße Babyjahr. Also Therapeutenwechsel. Und eigentlich… Will ich das nicht…

Nebelzeit, vierter Teil

Dies ist der vierte und letzte Teil, der meine Vergangenheit vor der Psychose thematisiert.
Ich wechselte zu Beginn des Jahres 2012 von dem Psychologen Herr S. zu der Kinder- und Jugendtherapeutin Frau M. Sie sollte mich bis Sommer 2014 begleiten, durch die zehnte Klasse, durch die Oberstufe zum Abitur, meiner Bewerbung zum Studium und zum Umzug. Auch in meiner Krise im Herbst 2014 nahm sie sich meiner an, vereinbarte am Wochenende mit mir Termine und half, so gut es ging. Dennoch muss erwähnt werden, dass sie „nur“ eine Sozialpädagogin war und keine Psychologin, weswegen sie mir zwei Fehldiagnosen zu schrieb. Vor allem ihre Arbeit an meinen dissoziativen und durch Traumata ausgelösten Störungen bleiben mir in guter Erinnerung, denn sie half mir, zwischen dem Hier und Jetzt und der Vergangenheit zu unterscheiden.
Das Mobbing, die alte Schule und die Vergangenheit in der Klinik verfolgte mich nicht mehr, nur manchmal träumte ich von den Erfahrungen, die ich schmerzlich machen musste. Meine Suizidgedanken nahmen ab, ich hatte Freunde, unternahm am Wochenende manchmal etwas mit ihnen, ging in die Stadt und fing wieder an, zu leben. Dennoch verletzte ich mich in schwierigen Situationen manchmal noch selbst. Ein destruktives Verhalten, welches ich bis heute nicht ganz ablegen konnte.
Im April 2012 war ich das zweite Mal in der Klinik des Heinrich-Braun-Krankenhauses. Nach einer Wunde vom selbstverletzenden Verhalten musste ich in die Notaufnahme zum Chirurgen, um die Wunde nähen zu lassen. Ich hatte bis auf das Fettgewebe meines Armes geschnitten und konnte mir nicht mehr selbst helfen. Einige Nächte verbrachte ich in der Kinderabteilung, um stabiler zu werden. Danach konnte ich, noch immer ziemlich aufgewühlt, die Klinik vorerst verlassen.
Irgendwie, trotz aller Probleme und dem plötzlichen Absetzen meines Antidepressivums, schaffte ich die Schule. Nun begannen die psychotischen Symptome einzusetzen, wie in Der Beginn und Von Prüfungen und Stimmgewirr beschrieben.

Nebelzeit, dritter Teil

Es vergingen Monate, bis ich den ersten Termin der Familienberatungsstelle hatte. Die Sozialarbeiterin, die damals mit mir redete, nutzte viele verschiedene Mittel um meinen Unmut erklärt zu bekommen. Ich sollte Tiere aufstellen und daran erklären, wie ich meine Position innerhalb der Familie sehe. Sollte offen reden über das Mobbing, die Selbstverletzung und die Suizidgedanken. Schon bald wurde der Sozialarbeiterin, Fr. H., klar, dass ich suizidal war und das mir die Termine im Abstand von zwei Wochen nicht reichten. Sie empfahl meinen Eltern, mich in die Kinder- und Jugendpsychiatrie des Heinrich-Braun-Klinikums zu überweisen. Dazu brauchte ich eine Einweisung meines Hausarztes. Einige Tage später saß ich auf der Liege der Ärztin, rutschte nervös hin und her. Sie sah sich meine Arme an. Redete mit mir über meine Suizidgedanken. Damals wollte ich mich mit der weichen Methode, einer Tablettenüberdosis, vorzugsweise mit freiverkäuflichen Medikamenten, umbringen.
In der Zwickauer Klinik kam ich in das Akutzimmer, ein Zimmer mit Kameraüberwachung. Es war eine offene Station. Zuerst kam ich überhaupt nicht damit zurecht, in einem psychiatrischen Krankenhaus zu sein. Aber die Isolation von meiner Schule, in der ich weiterhin gemobbt wurde, tat gut. Aber ich war immer noch schwer depressiv. Damals, 2010, mit 14 Jahren, nahm ich mein erstes Antidepressivum, das gut anschlug. Ich begann wieder zu leben. Ich fand in der Klinik Freunde. Vor allen ist Sarah, meine erste Zimmernachbarin und Mitpatientin, zu nennen. Bis heute sind wir befreundet.
Langsam lernte ich wieder, das Leben als solches zu akzeptieren. Mit meinem Schicksal abzuschließen. Im November wechselte ich die Schule, nach Zwickau in das künstlerisch-musisch orientierte Clara-Wieck-Gymnasium. Damit begann für mich eine neue Epoche meines Lebens. Ab dem ersten Tag in der Klasse wurde ich angenommen, so wie ich bin. Kleinere Streitigkeiten und Probleme gab es auch hier, aber kein Mobbing. Ich fühlte mich wohl. Meine Depressionen verschwanden zwar nie ganz, denn ich war gezeichnet von den Erfahrungen in der Glauchauer Schule. Im Februar 2011 wurde ich entlassen.
Auszug einer weiteren E-Mail an Fr.Z., meine ehemalige Klassenlehrerin.

Ich selbst kann es mir nicht erklären, wie so etwas geht. Mit vierzehn Jahren eine solche Trauer, einen solchen Hass auf das Leben. Um ehrlich zu sein: Ich könnte es wieder tun. Ich bin am verzweifeln. Am 10. Februar, letzter Schultag, wurde ich entlassen. Ich kann es kaum glauben. Es tat weh. Einfach nur weh. Die letzte Schulwoche habe ich zu Hause verbracht. Ich war nur zwei oder drei Tage in der Schule. Ich war so schwach. Wow. Klingt scheisse wenn ich das so knall hart schreibe. Aber ich kann nicht mehr. Ich muss mich ablenken. Ich kann einfach nicht mehr.
Es ist einfach nur scheisse. Alles. Einfach alles. Ich will und kann nicht mehr. Die scheiss Klingen haben mir die Therapeuten in der Klinik weggenommen. Könnte sie derzeit gut gebrauchen.
Ablenken kann ich mich nicht.
So ein scheiss Leben.
Ich war siebte Klasse, als sie mir Ihre E-Mailadresse gaben, so unbeschwert und kindlich. Naiv. Lebte in meiner rosa Luftballon-Welt. Ein Jahr später : Depression. Suizid. Antidepressivum.
Schulwechsel, Kulissenwechsel. Besserung? No way. Immer noch die selben Probleme. Die Leute dort müssen mir helfen. Ich will weg. Einfach nur weg.
Bevor wieder etwas geschieht. Und dann ist es zu spät.
Ich stehe zwischen Bäumen.
Leben ändert sich.
Nach der Psychiatrie.
Keine Hilfe mehr.
Mehr – kann nicht mehr.
Ein stetiges fliehen.
Aber ich traue mich nicht, diesen Schritt zu tun.
Was soll ich nur machen? Der Tod löst diese Frage auch nicht. Zu viel liegt mir … mir liegt an nichts etwas.
Es ist so sinnlos.
Sinn. Los.

23.02.2011
Diese E-Mail zeigt, wie hospitalisiert ich nach dem Klinikaufenthalt war. Ich wollte um jeden Preis zurück in die Klinik, war immer noch sehr pessimistisch und schlecht drauf. Ich isolierte mich weiterhin und auch die Selbstverletzung wurde nicht besser. Ich hatte weiterhin wöchentliche Gespräche mit dem Psychologen Herr S. aus der Klinik. Dies ging ungefähr ein Jahr weiter, bis ich einen Therapeutenwechsel machen sollte. Denn die Beziehung zu dem Psychologen war aus privaten Gründen ziemlich strapaziert.

Nebelzeit, zweiter Teil

Ich dachte, Ignoranz sei schlimm. Das ich meine Freunde verlor, alleine in der Schule und in der Ausbildung zurecht kommen musste, zehrte an meinen Kräften. Ich begann, mich zurück zu ziehen. Nach der Schule hing ich stundenlang allein in meinem Zimmer, am PC. Das ist für eine Auszubildende als Informatik-Assistent sicher nichts außergewöhnliches. Noch heute verbringe ich überdurchschnittlich viel Zeit vor dem Laptop. Doch damals war es anders. Es lag nicht nur daran, dass ich mich in eine kindliche Traumwelt zurück zog, viele traurige Gedichte und Geschichten schrieb, viel über Gott und die Welt nachdachte. Heute sehe ich dies als Anfang meiner ersten Depression. Wenn die Gedanken kreisen, alles und nichts Bedeutung hat, man in Hoffnungslosigkeit und Angst versinkt. Ich isolierte mich. In der Schule, zu Hause, von Freunden, Familie, von allem. Meine Hobbys machten keinen Spaß mehr. Wenn ich Klavier spielte, dann ohne die Passion, die ich zuvor verspürt hatte. Wenn ich zeichnete, dann sehr dunkle, traurige Bilder, in denen sich junge Mädchen verschiedenes antun. Ich schrieb ziemlich deprimierende Gedichte. Ich erinnere mich an einen Text, den wir im Ethik-Unterricht lesen sollten. Dabei ging es auch um ein Mädchen, welches ziemlich schlecht drauf war, aus dem Fenster in den Regen schaute und sich nach dem Sinn des Lebens fragte. Ich konnte mich damals so mit diesem Text identifizieren, dass ich ihn bis heute nicht vergesse. In Musik sangen wir damals „Mad World“ von Gary Jules. Auch das wurde für mich als Zeichen meiner Depression.

Went to school and I was very nervous
No one knew me, no one knew me
Hello teacher tell me, what’s my lesson?
Look right through me, look right through me
And I find it kind of funny
I find it kind of sad
The dreams in which I’m dying are the best I’ve ever had
I find it hard to tell you,
I find it hard to take
When people run in circles it’s a very, very
Mad world, mad world, enlarging your world, mad world

Einige Wochen vergangen, in denen ich mich in ein Schneckenhaus zurückzog. Aus diesem sollte ich mehrere Monate, Jahre nicht hervor kommen.
Dann begann das Mobbing. Mit meiner Sonderstellung, die ich zuvor eingenommen hatte, konnte ich mittlerweile ganz gut leben. Ich akzeptierte mein Schicksal, nahm es hin ohne zu hinterfragen, was es für mich bedeuten könnte. Zuerst wurde ich in Gruppenarbeiten gemieden. Aber das war ja nichts Neues mehr für mich. Irgendwann wurden die Pausen nicht mehr nur einsam. Ich saß mittlerweile immer allein in der Ecke. Doch das änderte sich. An die Tafel wurde immer öfter „MIIIEP“ geschrieben. Das war ein Zeichen für mich. Es bedeutete „Gegen Anna“ in der Sprache meiner Mobber. Außerdem sang man Lieder über mich. Zum Beispiel das Lied von Polarkreis 18 „Allein, allein“. Denn das war ich. Allein. Einsam. Dann fand man es lustig, mich mit kleinen Kugeln aus Alufolie zu bewerfen. „Hey, Miiiep!“ – zack, warf man mir die kleinen Kügelchen ins Gesicht, in denen zuvor die Butterbrote meiner Mitschüler verpackt waren. Auf dem Schulhof gab es Bereiche mit Kies. Auch den warf man mir entgegen, kippte man mir in die Anziehsachen oder in meine Schultasche. Vor dem Unterricht wurden meine Hefter oder Schulbücher versteckt. In den Pausen begann ich, mich zu verstecken. Vorzugsweise auf Toilette. Eingesperrt verbrachte ich diese quälenden Zeiten. Meine Lehrer bekamen nichts mit – und wenn sie etwas mitbekamen, dann schwiegen sie darüber.
Irgendwann Anfang 2010 dehnte sich das Mobbing aus. Über die sozialen Netzwerke Schüler-vz oder Schüler-cc bekam ich immer öfter Mails geschrieben, die mich beleidigten.
Auch fing man an, mich mit anderen Gegenständen wie Schulbüchern zu bewerfen und zu schlagen. Hinzu kamen noch die Hinweise, dass ich mich umbringen soll. In Form von Tabletten, die man auf meinem Sitzplatz hinter ließ oder indem man in höheren Etagen hinter mir stand und „Spring! Spring! Spring!“ rief, setzten mich meine Peiniger unter Druck. Wieder bekamen die Lehrer nichts mit und ich hatte zu viel Angst, um selbst etwas zu sagen. Auch meinen Eltern sagte ich nichts. Ich ließ alles über mich ergehen, ob der Hoffnung das das Ganze irgendwann ein Ende nähme.
Eine der Hass-Mails:

DU hast Freunde? Meine Antwort: streber, behinderte und idioten. kann sein.
ICH darf hier meine Meinung nicht äußern? Anna, fick dich. Das ist ein freies Land da kann ich sagen was ich will und wenn ich dich sonstewie damit verletze du kleiner möchtegern Emo.
Was du auch nich mitbekommst is, das das hier ernst ist.Aber sieh es ruhig lustig, da hast du wenigstens vor dem Beginn des 2. Halbjahres noch was zu lachen. Denn danach wirst du nichtmehr lachen.
Und deinen hässlichen Brillenkinder-Freundinnen, mit denen du Nachmittags die „Wendy“ liest, und „Janine auf dem Pferdehof“ auf dem Gameboy spielst, kannst du ausrichten das die uns alle mal kräftig am arsch lecken können.

18.02.2010
Daraufhin begann ich, mich selbst zu verletzen. Zu erst waren es kleine, rote Striemen am Unterarm. Später steigerten sich die Wunden, bis meine Arme, der Bauch und die Beine voller Narben waren.
In einer E-Mail an meine ehemalige Klassenlehrerin Fr. Z. schrieb ich damals:

Ich muss mich echt überwinden, diese Mail zu schreiben! Denn sie haben nun live miterlebt, wie ein fröhliches Kind zu einer depressiven Jugendlichen wird. Ob Ihnen das bis jetzt klar geworden ist, das ich Depressionen habe, ist zu bezweifeln, aber Sie kennen die Gründe, und ich habe sie ja meistens etwas länger geschildert.
Depressionen sind in der Jugend ja keine allzu seltenen Sachen mehr! Ich kenne einige, die darunter leiden. Und ich bin selber leider depressiv geworden, und gehe auch bald in Therapie. Dazu kommt mein ungeheurer Masochismus. Der hat sich allerdings noch verschlimmert, bin leider auch unter die ritzsüchtigen gegangen, deswegen Therapie – und Familienberatung.

19.05.2010

Nebelzeit

Ich habe bereits einen Blogbeitrag mit dem Titel „Der Beginn“ geschrieben. Darin schilderte ich den Anfang meiner schizophrenen Psychose. Aber eigentlich begannen meine psychischen Probleme schon viel zeitiger. Dabei kann ich nicht abschätzen, wann „normales“ Verhalten aufgehört hat und „krankes“ Verhalten begonnen hat. Ich kann nur noch rückblickend sagen, wie es in meiner Erinnerung ist.
Damals, vor 6 Jahren, war ich ein ziemliches normales, wenn auch störrisches Mädchen, dass sich gerade im Übergang zur Pubertät begann. Die ersten Pickel, der erste Liebeskummer, die Umwandlung des eigenen Körpers – alles Baustellen, die seit jeher für junge Mädchen schwierig sind, für Heulkrämpfe und Nervenzusammenbrüche sorgen, die Freundinnen strapazieren und die Beziehung zu den Eltern auf eine harte Probe stellen. Ich kam gerade in die achte Klasse. Dies war etwas ganz besonderes, denn ich nahm an einem „Experiment“ des Freistaates Sachsen teil, das Schülern ermöglichen sollte, während der Schulzeit eine Ausbildung zum Assistent für Informatik zu machen. Die neue Klasse, in die ich kam, war eine bunte Mischung aus den anderen 4 Klassen. Nur wenige kannten sich, der Rest war sich unbekannt. Auch ich kam ohne bestehende Freundschaften in diese neue Klasse. Die ersten Wochen liefen richtig gut. Ich fand neue Freunde, machte viele Späße, alberte in den Pausen rum und strapazierte die Lehrer. Leider ging es zu dieser Zeit meiner Großmutter, zu der ich eine ganz besondere Beziehung hatte, körperlich sehr schlecht. Aber ich konnte diese negativen Schwingungen gut abfangen, denn es lief dafür in der Schule super. Auch hatte ich richtig Spaß am Klavier spielen, was mir zuvor eher Schwierigkeiten bereitet hatte. Ich zeichnete mehr und wurde immer besser. Kurzum – der schwierige Start in die Pubertät gelang mir mit einem guten Gefühl.
Eines Tages, im Oktober, war ich auf der Geburtstagsfeier einer Freundin aus meiner neuen Klasse. Es war so eine typische Jugendlichen-Feier, mit Flaschendrehen, dem ersten Bier (welches eklig schmeckte) und allerlei anderem Quatsch. Außerdem war F. dabei – mein damaliger Schwarm, viel größer als die anderen Jungs, sarkastisch und ein typischer Cliquenleiter. Irgendwie kam an diesem Abend heraus, das ich für F. schwärmte. Und ich wusste nicht, welche Konsequenzen das nach sich ziehen sollte. Die Freundin, die Geburtstag hatte, wurde an diesem Abend eher ignoriert, als das man sie feierte. Es zeigte sich, dass die Anderen eher nur zum Spaß zu ihr gekommen waren, sie ausnutzten. Das erzählte ich ihr einige Tage später. Leider verstand sie nicht, dass ich sie nur warnen wollte, gar schützen. Denn sie fasste es als Beleidigung auf.
Dann starb meine Großmutter. In dieser ziemlich komplizierten Zeit des Erwachsenwerdens, der Selbstfindung und Verwirrung brach eine Stütze weg, auf die ich zuvor gebaut hatte. Und auf diesen Schock hin wurde ich krank. Zog mich zurück, bekam eine schwere Grippe. Zwei, vielleicht auch drei Wochen ging ich nicht zur Schule.
Als ich danach wieder kam, war alles anders.
Meine „Freunde“, die ich einige Wochen zuvor noch hatte, ignorierten mich. Wandten sich von mir ab. Redeten nicht mehr mit mir. Ich verstand die Welt nicht mehr. Eigentlich hätte ich jemanden zum reden gebraucht, denn es war schon schwer genug, mit dem Tod einer so nahestehenden Person klar zu kommen. Doch diese Abneigung, die scheinbar aus dem Nichts kam, war unerklärlich für mich. Das dies alles mit dieser seltsamen Geburtstagsfeier zusammen hing und inwieweit meine Schwärmerei, die Sorge um die Freundin und alles andere dafür gesorgt hatte, wusste ich nicht. Bis heute kann ich nur annähernd sagen, was genau geschehen war. Schließlich konnte ich danach mit niemanden mehr reden. Deswegen ist dies ein Punkt, der sehr von Nebel umschleiert ist. Der unfassbar, unbegreiflich ist. Es tut aber nichts zur Sache. Von einem aufs andere Mal, innerhalb von wenigen Wochen war ich von einem taffen, gut integrierten Mädchen zur Aussenseiterin der gesamten Jahrgangsstufe geworden. Ich dachte, dass sei das Schlimmste, was mir passieren konnte. Hätte ich in die Zukunft sehen können, wäre mir bewusst geworden, dass es noch schlimmeres als Ignoranz gab.