Der Koffer – eine Kurzgeschichte von Anna Kunze

Der Landesverband Psychiatrie-Erfahrener Baden-Württemberg e.V. rief im Frühjahr einen Schreibwettbewerb auf. Und ich nahm mit zwei Kurzgeschichten teil. Und was soll ich sagen: Ich habe den dritten Platz erreicht! Ich bin gerade unheimlich glücklich und überwältigt. Nun kann ich meinen Text auch mit euch teilen. Danke, danke, danke!

Der Koffer

Ich habe keinen Koffer. Neben mir steht mein schwarzer Armee-Rucksack, mit einigen Flicken und Patches meiner Lieblingsbands. Die Vorstellung, hier mit einem Koffer zu sitzen gefällt mir nicht. Es erinnert mich zu sehr ans Reisen, Flugzeuge, weit-weg-sein, Fernweh. Oder das Ankommen in einem Hotel, bei dem man All-Inclusive Verpflegung hat und einen Pool.

Ich sitze jedoch im Krankenhaus. Genauer gesagt auf Station 81 – der psychiatrischen Abteilung des Krankenhauses in meiner Stadt.

Neben mir fällt der Rucksack um, ich beuge mich vor um ihn wieder aufzustellen. Ich bin im Speisesaal, warte bis meine Ärztin, die mich einwies, mit der diensthabenden Ärztin geredet hat. Durch die Scheibe der Tür die Schwesternkanzel kann ich sie sehen. In dieser steht meine Ärztin und redet mit einer hübschen Frau. Sie schaut zu mir, ich schaue zurück, die Blicke treffen sich. Mit einem leichten Lächeln nickt sie mir zu. Ich bin viel zu blockiert, um dies anzunehmen und schaue weiter zu, wie sie mit der anderen Ärztin redet.

Dann öffnet sich die Kanzel und ein Krankenpfleger mit einem langen, dunklen Bart kommt auf mich zu, grinsend hält er mir die Hand hin und sagt, er bringe mich auf mein Zimmer.

Ich schultere meinen Rucksack auf. Er ist schwer, ich muss erst ein mal lang ausatmen um mich an das plötzliche Gewicht auf meinem Rücken zu gewöhnen.

Ich folge ihm, blicke mich um. Die Wände sind weiß gestrichen, alles wirkt steril. Der Fußboden hat ein orangenes Muster, welches den Boden dreckig wirken lässt. Die Türen sind von grauer Farbe. Neben ihnen sind Schilder mit Beschreibungen und Nummern.

Er öffnet das Zimmer 25, an dem eine Gravur verrät, dass es sich dabei früher um einen Gesprächsraum handelte. Das Zimmer fasst keine 15 Quadratmeter, aber es stehen drei Betten darin. Links ist ein Bett, welches klinisch rein wirkt – es soll das meine sein.

Rechts vor dem Fenster sind zwei weitere Betten. Auf dem hinteren sitzt eine kleine, rundliche Frau mit feurig-roten Haaren, die sie mit einer Haarnadel bändigt. Ihre Augen blitzen auf, als ich eintrete und sie lächelt mir sanftmütig zu.

Davor eine alte Frau, ich schätze sie auf mindestens 85 Jahre, die auf der Bettkante sitzt und immer wieder wiederholt: „Er kann gerne kommen, jetzt, jetzt, der Krieg is‘ ja zu Ende, da kann er ruhig kommen…kommen, ja, das kann‘er ja…“

Mit Schwung werfe ich meinen Rucksack auf das Bett, werde im nächsten Moment jedoch aus meinem Zimmer gerufen. Die Ärztin sei jetzt da, nun könne man das Aufnahmegespräch machen.

Die Ärztin ist ein schöne Brünette, unter ihrem Kittel trägt sie ein roséfarbenes Top und eine moderne Hose. Sie wirkt freundlich, aber blickt nicht eine Sekunde von ihrem Schreibblock auf. Darauf liegen die Papiere für die Aufnahme.

Ich erhasche einen Blick, lese erst meinen Namen, Alter, Geburtsdatum und schließlich: F20.0.

Natürlich weiß ich, dass es sich dabei um einen Code des Krankheits-Index handelt und die kryptische Folge bedeutet: ich habe Schizophrenie.

Als ich zum ersten Mal auf dieser Station war, wusste ich weder was der ICD-10 ist, noch was F20.0 bedeutet. Mit meiner Zeit auf Station, vielen Buch- und Internetrecherchen und Gesprächen mit Ärzten, Pflegern und Therapeuten weiß ich nun, worum es sich handelt.

Die Aufnahme verläuft immer nach dem gleichen Muster. Zu erst werde ich nach meiner Stimmung gefragt. Mir fällt es schwer die richtigen Worte zu finden. Ich erkläre, dass ich sehr müde bin und mich nicht konzentrieren kann. Dann rede ich von meinen Ängsten. Das ich denke, die Nachbarn bestrahlen mich und wollen mich in den Selbstmord treiben. Das ich Schatten sehe, welche nachts nach vor meinem Fenster entlang huschen, die mich heimsuchen. Die Stimmen, die ich höre, eine Kakophonie aus Aufforderungen und Kommentaren. Die Ärztin notiert alles, nickt leicht mit dem Kopf, schreibt dann einige Formulierungen auf. Sie fragt nach einigen Aussagen genauer nach. Wie ich mir erkläre, dass nur ich die Schatten sehe. Ich erkläre, man hat mir ein Serum gespritzt, dass mich die unklaren, nebulösen Formen sehen lässt. Auch für die Strahlung habe ich eine Erklärung. Meine Nachbarn wollen mich nicht mehr als Mieter und senden die Wellen um meinen Suizid zu provozieren.
Dann fragt sie, wie ich schlafe, ob und wie viel ich esse, ob ich regelmäßigen Stuhlgang habe und ob meine Menstruation normal verläuft. In einer knappen Viertelstunde sind wir auch schon durch und ich schlurfe geschafft auf mein Zimmer. Die rothaarige Frau stellt sich mit Johanna vor, ich sage ihr meinen Namen, wir reden ein wenig.

Den Namen der alten Frau erfahre ich durch einen Pfleger, der eine Kontrolle der Zimmer macht. Sie heißt Frau Voigt und wirkt stark beunruhigt. Sie blickt mich an und murmelt, ich hätte den Krieg ja nicht erlebt. Allerdings fragt aber immer nach Werner, vermutlich ihren Mann. Ich erkläre ihr, dass ich ihn nicht kenne. „Dann kommt er ja bald wieder, ja, da der Krieg jetzt zu Ende ist…“

Ich lege mich auf das Bett, es quietscht als ich mich auf die Seite drehe. Merke, dass der Pfleger das Bett nicht festgestellt hat. Johanna steht auf, geht zu mir und drückt einen Hebel herunter und fixiert die Räder, sodass sich das Bett nicht mehr bewegt.

„Weswegen? Also, warum du hier bist?“, fragt sie mich, dreht ihre Haare zusammen und steckt die Haarnadel wieder gekonnt in einen Knoten.

„Schizo, und du?“, antworte ich. Still erklärt sie mir, sie wurde auf Arbeit gemobbt, dann hätte sie Depressionen bekommen, dann kam eines nach dem Anderen und ihr Arzt hätte ihr geraten, freiwillig die Klinik aufzusuchen. Hier sei sie schon beinahe vier Wochen, aber sie möchte ohnehin bald gehen, weil Baldur, ihr Kater, so schrecklich alleine sei und er ihren Partner nicht möge. Katzen sind ja launisch und der Baldur sei so abhängig von ihr. Ich erzähle von meinem Kater, Nathan, eine getigerte Katze mit nur drei Beinen. Wir reden und sind uns bald sehr sympathisch.

Frau Voigt schaut derweil aus dem Fenster und ich sehe, wie sie sich aufzulösen scheint. Meine Oma sagte einst, man stirbt zweimal. Das erste Mal, wenn das Herz aufhört zu schlagen und das zweite Mal, wenn man vergessen wird. Ich habe das Gefühl, beide Arten könnten Frau Voigt bald ereilen.

Meine Augen schließen sich und binnen eines Augenblicks bin ich eingeschlafen. Ich liege in embryonaler Stellung auf dem Bett, es hat gelb-blau karierte Bettwäsche, mein Kopf liegt auf meiner Schulter. Es ist ein traumloser Schlaf, der mich wieder zu Kräften kommen lässt.

Irgendwann werde ich gerufen. Der Pfleger mit dem langen Bart kommt in unser Zimmer, meine beiden Mitpatienten sind bereits weg – sie sind zum Mittagessen in den Speisesaal, der Raum, in dem ich vorhin warten musste. Müde folge ich dem Krankenpfleger, in dem ich nun alle Patienten sehe. Es müssten ungefähr 30 Menschen sein. Ältere, Jüngere, Drogenabhängige, Depressive, Psychotiker, ein bunter Haufen. Ich hole das Tablett mit meinem Essen, es gibt Nudeln, ich bekomme sie jedoch kaum herunter.

Später kommt eine große, schlanke Frau auf unser Zimmer. Stumm reicht sie mir einen Zettel, auf dem steht: Therapieplan. Darunter die Tage Montag bis Freitag mit verschiedenen Angeboten. Sie empfiehlt mir, zuerst einmal den Morgensport zu besuchen, danach Rückenschule, Psychoedukation, Ergotherapie. Im Nu sind viele Therapien mit einem Marker angestrichen, dennoch gibt es auch viel freie Zeit. Sie redet beruhigend auf mich ein, wenn ich etwas nicht schaffe, sei das nicht so schlimm, ich solle es jedoch alles einmal ausprobieren.

Ich fühle mich ein wenig angespannt – die letzten Monate, in denen ich versuchte zu Hause Herr über meinen Verstand zu werden, waren mit weitaus weniger Terminen bereits anstrengend gewesen. Nun soll ich meinen Tag strukturieren, Therapien besuchen. Gruppenangebote, wie das Handwerk, Gedächtnistraining. Aber auch Einzelgespräche mit einem Psychotherapeuten sieht der Plan vor. Hauptsächlich soll ich aber medikamentös behandelt werden.


Der Tag vergeht, ich sehe die Sonne hinter den Gebäuden des Krankenhauses sinken. Ich darf ins Gelände der Psychiatrie gehen – sogar ohne Begleitung – um zu Rauchen. Meine E-Zigarette befülle ich mit Liquid, es schmeckt nach Erdbeere, dann laufe ich immer wieder im Innenhof entlang. Ich mustere die Büsche und Sträucher, die alle ein Schild tragen, um die Pflanzen zu bestimmen. Links eine blühende Forsythie, dann ein Fliederbusch, rechts ein Schnurbaum, dahinter noch Eibe. Das Zwitschern der Amseln in den Wipfeln weckt in mir Heimweh, ich denke an meine Kindheit zurück, in der ich die meiste Zeit in der Natur war.

Als ich wieder in mein Zimmer komme, sitzt Frau Voigt im Rollstuhl, dem Fenster zugewandt. Sie schläft, ihre Lider sind geschlossen und die Brust hebt und senkt sich nur sehr leicht. Johanna liest. In ihrem Nachttisch stapeln sich die Bücher, es ist von allem etwas dabei, erklärt sie mir: Thriller und Krimis, Reiseberichte, Biografien.

Ich leihe mir ein Buch über eine Japanreise, mit aufwändigen Holzschnitten dekoriert. Wir reden über das Land der aufgehenden Sonne, über Hokkaido, Sushi, Japanese-Fashion und Maneki-Neko.


Ich habe keinen Koffer, denke ich mir. Aber ich hätte jetzt gerne einen, dann würde ich dem Autor nach Japan folgen. Frau Voigt wispert, „…da in Japan, da war der Krieg schlimm“, und ich warte auf den nächsten Tag.

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