Stillste Stund

Ich stehe im Regen. Ich höre nichts, ich sehe nichts, ich spüre nichts. Um mich herum ist niemand, nur die zwei hohen Gebäude die eine Gasse bilden. Hier bin ich unbeobachtet. Mit zittrigen Händen öffne ich die Verpackung, sie fällt mir immer wieder runter, doch ich hebe sie auf und versuche es erneut. Dann nehme ich eine einzelne Rasierklinge. Immer wieder ramme ich sie mir tief in den Arm, mache einen Schnitt, dann zwei, dann ein dritter, und immerfort, bis es mir schwindelig wird. Nun sehe ich, was ich getan habe und der Schock trifft mich. Ich habe kein Verbandsmaterial. Ich drücke ein paar Taschentücher auf meinen Arm, nehme meine Sachen und renne in die Notaufnahme. Ich finde den Eingang nicht, zittere immer noch, bin verwirrt, oben, unten, links, rechts, wie bekomme ich eine Tür auf? Irgendwann hilft mir ein älterer Mann und ich gehe in die Anmeldung.
„Was ist los?“ fragt mich die Krankenschwester, die hinter einem Computer sitzt.
„Schnittverletzung, linker Unterarm“ sage ich nüchtern. Sie runzelt die Stirn, ob meiner kühlen Antwort oder meinem kreidebleichen Gesicht.
„Zeigen Sie mal“ und ich strecke ihr den Arm entgegen und entferne die Taschentücher.
„Um Himmelswillen, Mädel!“ stößt sie entsetzt auf und holt schnell steriles Verbandsmaterial, wattierte Kompressen und Bandagen. Sie verbindet meine Wunden, aber innerhalb kürzester Zeit ist alles blutgetränkt.
Sie nimmt meine Versicherungskarte entgegen und schickt mich zu einer weiteren Schwester, die meinen Verband erneuert. Sie ist sehr klein, vielleicht 1,50 m, und spricht kein Wort mit mir, während sie seufzend die Schichten des Verbands löst.
Zeit vergeht. Es kommen Menschen mit geschwollenen Armen, die in grotesken Winkeln abstehen. Eine Frau hat Schürfwunden am Knie und streitet mit einem Arzt.
Ich gebe André Bescheid und irgendwann kommt er. Ich bin immer noch wie in Trance, vollkommen verloren in den Weiten der Dissoziation.
Doch langsam klärt sich der Nebel und ich komme wieder zu mir. Und mit dem Bewusstsein kommt der Schmerz. Nach drei Stunden werde ich aufgerufen. Mir schwindelt es, ich kann mich kaum auf den Beinen halten. Ich bin nüchtern und habe nur eine Tasse Kaffee intus. Dazu  Blutverlust.
Ich sehe auf den Bildschirm des Computers. Kunze, Anna (18.05.96),  nicht dringend, Borderliner steht als erstes in der Liste. Erneut wird der Verband aufgeschnitten und als der Arzt die Kompressen anhebt, beginnt es erneut zu bluten. Er nimmt die Anamnese auf. Circa 12 Schnitte, 5 kleinere und 7 tiefere, DMS intakt, kein Hinweis auf Verletzung tieferer Strukturen.
Wieder muss ich in den Wartebereich. Ich sitze vielleicht eine halbe Stunde, als ich in die Wundversorgung gerufen werde. Im OP lege ich mich auf eine Trage, den linken Arm ausgestreckt. Eine OP-Schwester bereitet alles vor. Ich sage, das ich ebenfalls schonmal im OP gearbeitet habe. „Und was machen Sie jetzt?“ Ich schlucke und gebe zu, arbeitslos zu sein. „Aha.“ sagt sie und legt die Instrumente bereit.
Der Arzt kommt herein. Er entfernt den Verband und erklärt der Schwester das Vorgehen. Die fünf kleineren werden mit Gewebekleber zusammen geklebt und dann mit Steristrips fixiert. Die weiteren werden genäht. Er setzt mir sechs Spritzen zur Betäubung. In meinen angeschwollenen, zerschnittenen und blutenden Arm werden die Spritzen injiziert. Ich lasse mir den Schmerz nicht anmerken. Dann legt der Arzt los.
Ich taumle, als ich in den Wartebereich komme. Mein Arm ist dick verpackt und ich spüre das pulsieren des Blutes. Wir fahren nach Hause. Und ich weiß, dass das ein neuer Tiefpunkt ist.

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