Ich lass dich nicht zurück 

Er lacht immer wieder kurz auf, zieht dann lang an seiner Zigarette und schaut zu mir. 
„Meine Freundin hat das auch gemacht“,  sagt er und zeigt auf meine Arme, „aber nicht so schlimm.“ 
Dann fängt er an zu weinen, ein tiefes, dumpfes Schluchzen. Über seine unrasiertsn Wangen rinnen Tränen und er keucht nach Luft. 
„Ich bin nach der Arbeit zu ihr gefahren, dann sah ich sie im Schlafzimmer. Ihre Augen waren halb geschlossen und ihr Mund stand offen, darum war schwarzes Blut.“
Er nimmt einen tiefen Zug an der glimmenden Zigarette, eine Träne weg wischend.
„Sie hat mich angerufen und gesagt: ‚ ich halte das nicht mehr aus! Ich nehme jetzt alles, was ich da habe!‘ Aber das hat sie öfters gesagt, ich habe es nicht ernst genommen. Dann rief ich den Notarzt und die Polizei, aber ich wusste, das es nichts brachte, es war schon zu spät.“ 
Er hat eine schwarze Jacke an, trägt eine Brille, sieht so normal aus. Er war bei Beratungsstellen, in einer Ambulanz für Alkoholiker, aber er musste trinken. Es sollte endlich bergauf gehen, er hatte Pläne, endlich schien es besser zu werden. Doch er betrank sich vollkommen, nachdem er sie gefunden hatte. 
„Du bist verlobt? Dein Freund wird sich sicher sorgen um dich machen.“ 
Er hat recht. Ich war oft davor. Ich habe Tabletten gesammelt, Rasierklingen gekauft, Fahrpläne für die S-Bahn raus gesucht. Aber ich hatte nie daran gedacht, wie es für andere ist. Wen ich zurück lasse. Was es bedeutet, den Mensch zu verlieren, den man am meisten liebt. 
Wir sitzen und gegenüber und nehmen beide einen kräftigen Zug an unseren Zigaretten. Es friert mich und ich halte meine eigenen Ängste zurück. 
Was, wenn ich an ihrer Stelle auf dem Bett gelegen hätte? 

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